Im Herbst 1946 waren Werner Hebebrand zum Stadtbaudirektor und Leiter des Stadtplanungsamtes und Eugen Blanck zum Stadtbaurat ernannt worden. Beide waren entschiedene Verfechter einer modernen Planungspolitik und in Frankfurt keine Unbekannten. Blanck war zwischen 1926 und 1929 unter Ernst May Architekt im Städtischen Hochbauamt gewesen, Hebebrand Mitarbeiter von Martin Elsässer. Beide sahen nun gute Chancen, im zerstörten Frankfurt ihre Vorstellungen eines Städtebaus der Moderne verwirklichen zu können. Als Ende 1946 die Pläne des Hochstifts zum Wiederaufbau des Goethe-Hauses konkreter wurden, nutzten Blanck und Hebebrand ihre guten Beziehungen zum Deutschen Werkbund Hessen und starteten im Frühjahr 1947 eine Umfrage unter Architekten und Kunsthistorikern, von denen keiner dem originalgetreuen Wiederaufbau zustimmte.
Trotz des einstimmigen Ergebnisses, gingen die Vorstellungen, wie mit dem Gelände am Großen Hirschgraben 23 verfahren werden sollte, weit auseinander: Einige plädierten für eine Gedenkstätte auf den Trümmern, andere für einen Neubau. Der Architekt Otto Bartning favorisierte sogar eine äußerliche Rekonstruktion des Goethe-Hauses mit glatten Wänden und Decken im Innern. Es begann eine kulturpolitische Kontroverse um den Wiederaufbau des Goethe-Hauses, die sich zur ersten großen Geschichtsdebatte entwickelte, die zu klären versuchte, wie die deutschen Städte im Allgemeinen und die Frankfurter Altstadt im Besonderen wieder aufgebaut werden sollten.
Mut zum Abschied
Der Publizist Walter Dirks, der mit Eugen Kogon gemeinsam die katholisch-sozialpolitisch orientierten ›Frankfurter Hefte‹ herausgab, sprach sich in seinem Beitrag gegen die getreue Rekonstruktion aus und fordert dagegen eine „schöpferische Wiederherstellung“, ein „mutiges Komponieren von zeiteigenen Formen mit historischen“ wie beim Ausbau der Paulskirche. Dirks war im Oktober 1946 in den Verwaltungsausschuss des Hochstifts gewählt worden. Beutler hatte vor der entscheidenden Magistratssitzung das Gespräch mit ihm gesucht, wie der Brief vom 24. April 1947 zeigt, mit dem er auf eigenen Wunsch aus dem Hochstiftsgremium austritt.
Frankfurts neues Goethe-Haus
Die Diskussion zur „Echtheit“ oder des „echt-imitierens“, wie es Otto Bartning in seinem dogmatischen Artikel „Entscheidung zwischen Wahrheit und Lüge“ 1948 in der Zeitschrift ‚Baukunst und Werkform‘ formulierte, wurde noch weitergeführt, als der Magistrat längst den Wiederaufbau beschlossen hatte.
Auch im folgenden Jahr, 1949 – kurz nachdem das Richtfest begangen wurde – veröffentlichte der Architekt Hermann Mäckler einen Artikel mit dem Titel „Frankfurts neues Goethe-Haus“. Zynisch drückt er darin sein Unverständnis gegenüber einer per se für ihn nicht möglichen „echten“ Rekonstruktion aus: „Es ist uns gelungen, dem fachlich interessierten Leser in Lichtbildern die werkgerechte und echte Rekonstruktion des Hauses zu zeigen. Die gut erkenntlichen Stahlträger, die wohl seinerzeit Goethes Vater aus dem oberitalienischen Walzwerk mitbrachte, sind uns dank einem gütigen Geschick erhalten geblieben.“ Dass bereits in den 1930er Jahren zwecks Statik Stahlträger ins Goethe-Haus eingezogen werden mussten, wurde argumentativ wohl besser ausgespart.
Aufruf des Deutschen Werkbundes Hessen
Im März 1947 veröffentlichte der Werkbund ein Faltblatt, das von 38 Mitgliedern und Anhängern unterzeichnet wurde und laut Punkt 2 forderte: „Das zerstörte Erbe darf nicht historisch rekonstruiert werden, es kann nur für neue Aufgaben in neuer Form entstehen“. Das Manifest endete mit einem Aufruf, Stellungnahmen an die Geschäftsstelle in Frankfurt zu senden. Zu den Unterzeichnern gehören die Architekten Otto Bartning, Eugen Blanck, Fritz Schumacher und Heinrich Tessenow, die bereits in den 1920er Jahren die architektonische Avantgarde miterlebt und mitgestaltet hatten und sich aktiv gegen den jahrhundertelangen vorherrschenden Historismus wandten, der sich durch Formenzitate vergangener Stilepochen auszeichnete. Für diesen Personenkreis konnte der Neuaufbau der Städte keinesfalls eine Wiederherstellung des Alten bedeuten. Der Aufruf des Werkbundes erschien auch in der Frankfurter Rundschau am 1. April 1947 sowie im ersten Heft der Zeitschrift ‚Baukunst und Werkform‘.
Aufruf des Deutschen Werkbundes Hessen zum Neuaufbau der Städte © Freies Deutsches Hochstift
Am 11. April 1947 schickte der Deutsche Werkbund Hessen seine gesammelten Stimmen gegen den Wiederaufbau des Goethe-Hauses an Oberbürgermeister Walter Kolb. Architekten, Künstler, Dichter und Kunstgelehrte äußerten sich – meist ethisch und moralisch aufgeladen – unter Verwendung von Ausdrücken wie „Unwahrhaftigkeit“, „Pietätloses“, „sentimentale Theater- oder Kinodekorationen“, „Attrappe“, „Lüge der Pietät“.
Auf der Rückseite unseres Exemplars hat Ernst Beutler mit Bleistift die Namen derer notiert, die er zwecks Stimmen für den Wiederaufbau anschreiben wollte (u.a. nennt er Paul Clemen und Karl Jaspers).
© Freies Deutsches Hochstift
Das Frankfurter Goethehaus * Im dunkelsten Deutschland
Der Herausgeber der bedeutenden Nachkriegszeitschrift ‚Die Wandlung‘, hatte zwischen 1934 und 1943 als Redakteur für die ‚Frankfurter Zeitung‘ gearbeitet. In seinem ‚Tagebuch‘-Beitrag (April 1947) stellt er dem Wunsch zum originalgetreuen Aufbau, die Not und das Elend der vielen Obdachlosen gegenüber und schlägt vor, gleichzeitig mit dem Goethe-Haus am Großen Hirschgraben »neue, beispielhafte Wohnhäuser für lebendige Menschen« zu bauen. In dem dokumentarischen Teil der Zeitschrift werden unter dem Titel ›Ruine, Rekonstruktion oder Neubau? Antworten auf die Frage des Frankfurter Goethehauses‹, Stellungnahmen gegen (Reinhold Schneider, Karl Scheffler, Otto Bartning) und für den Wiederaufbau (Gustav Radbruch, Paul Clemen) abgedruckt.